2018 feiert ein deutschlandweit einzigartiges Kirchengesetz seinen 275. Geburtstag, das die kirchliche Landschaft in Württemberg nachhaltig geprägt hat: Am 10. Oktober 1743 wurde das „General-Rescript betreffend die Privat-Versammlungen der Pietisten“ unterzeichnet. Dass Württemberg wie kaum eine andere Kirche in der EKD so stark vom Pietismus, seinen Gemeinschaften und freien Werken geprägt wurde, hat seine Wurzeln nicht zuletzt in diesem Gesetz. Wie kam es dazu?
Das Verbot der Privatversammlungen durch das Generalreskript im Jahr 1706
In Württemberg regierte Herzog Eberhard Ludwig (1676-1733) nach dem Vorbild des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. mit einer Mischung aus Arroganz, Korruption und Verschwendungssucht, die nicht nur bei den Pietisten auf wenig Gegenliebe stieß, sondern ebenso bei den Landständen und der Bürgerschaft. Anders als im römisch-katholischen Frankreich war der evangelische Herzog gleichzeitig der oberste Herr seiner Landeskirche. In Württemberg waren es besonders oft die Pfarrer, die angesichts der Missstände im Land und in der Kirche zusätzlich zum Gottesdienst zu Bibelkreisen und privaten Erbauungsstunden im Sinne der von Philipp Jacob Spener empfohlenen „collegia pietatis“ (Versammlungen der Frömmigkeit) einluden.
An manchen Stellen schlug die Empörung in gewalttätigen Widerstand um. Nach Unruhen in Stuttgart, Calw und Herrenberg wurden 1706 per Generalreskript mit klarer Stoßrichtung gegen den Pietismus sämtliche Aufruhr stiftenden Privatversammlungen verboten. Unliebsame Pfarrer wurden aus dem Kirchendienst entlassen.
Politiker und Juristen teilen die Sehnsucht nach Erneuerung von Kirche und Gesellschaft
In Württemberg gab es jedoch auch engagierte und kluge Landespolitiker und Juristen, die einerseits die wichtige Funktion der pietistischen Gemeinschaftsbewegung bei der Erneuerung von Kirche und Gesellschaft erkannten. In diesen kleinen Gesprächsgruppen, die ihr Leben gemeinsam an der Bibel ausrichten wollten, lag eine verändernde Kraft, die in kurzen Jahren nicht nur ganze Dörfer neu prägte. Der Pietismus – oder präziser: die auf Christus und seinem Wort gegründete Frömmigkeit – trug weit über die Grenzen des Herzogtums hinweg zu einem Zusammengehörigkeitsgefühl und Wertekanon bei, das die damaligen demokratischen Aufbrüche förderte und aus heutiger Sicht nationalistische Auswüchse zumindest teilweise korrigierte. Andererseits nahmen die damaligen Verantwortungsträger auch die Schattenseiten in manchen pietistischen Strömungen wahr – wie etwa außerbiblische Sonderlehren, die Verachtung der übrigen gottesdienstlichen Gemeinde oder auch die Neigung, jene innersten religiösen Gefühle nach außen zu kehren, die für manche im seelsorgerlichen Privatgespräch besser aufgehoben und damit geschützt gewesen wären als in einer öffentlichen Versammlung. Der frühere württembergische Landesbischof D. Helmut Claß (1913-1998) fasste die Haltung jener Zeit so zusammen: „Die Kirche ohne Pietas – Frömmigkeit – verflacht, der Pietismus ohne Kirche verengt.“
Erste Duldung der Pietisten in Stuttgart ab 1711
Diese Theologen und Juristen bewirkten, dass der junge Herzog diese Kreise nicht mit roher Gewalt zerschlug, sondern auf Gespräche und inhaltliche Überzeugungsarbeit durch die Kirchenleitung setzte. 1711 wurde ein weiteres Edikt erlassen, dass die Härten des Generalreskriptes zunächst ausschließlich für das Gebiet der Stadt Stuttgart abmilderte und Privatversammlungen duldete, solange sie sich ruhig verhielten.
Die Wende während der vormundschaftlichen Administration unter Georg Bernhard Bilfinger
1737 entstand nach dem frühen Tod des katholisch gewordenen Herzog Karl Alexander bis zur Volljährigkeit des jungen Herzogs Karl Eugen im Jahr 1744 ein politischer Freiraum, der durch eine „Vormundschaftliche Administration“ ausgefüllt wurde. In dieser Zeit wurden die größten Missstände am Hof abgestellt und Unerledigtes aufgearbeitet.
Georg Bernhard Bilfinger (1693-1750) sorgte als Präsident des Konsistoriums, mit dem Generalreskript von 1743 dafür, dass der Pietismus nach Jahren der Unsicherheit ein Heimatrecht in der Kirche erhielt. Das Konsistorium entspricht in etwa dem heutigen Oberkirchenrat, so dass Bilfinger faktisch bischöfliche Funktionen im Land übernahm. Der aus Württemberg stammende Gelehrte war ein international angesehener Philosoph, Mathematiker, Architekt und Theologe, der als Professor in Tübingen und Petersburg unterrichtet hatte. Nach dem Tod Karl Alexanders wurde Bilfinger in seiner Funktion als Präsident des Konsistoriums zum einflussreichsten Mann der vormundschaftlichen Administration.
Die wichtigsten Regelungen des Generalreskripts von 1743
In einem sehr freundlichen Ton legt das Gesetz verschiedene Zugeständnisse und Einschränkungen fest. Die zentralen Anliegen sind dabei, Spaltungen zu vermeiden sowie den Nutzen der landeskirchlichen Ordnungen v.a. im Blick auf das Predigtamt, den gemeinsamen Gottesdienst, kirchlichen Unterricht und die Sakramentsverwaltung herauszustellen. So lauten die wichtigsten Regelungen:
- Die Versammlungen dürfen von Geistlichen oder Privatpersonen geleitet werden.
- Die Versammlungen sollen nicht während der Gottesdienstzeiten stattfinden, „aber so nahe daran, dass die aus und in die Kirche oder Versammlung gehende einander gleichsam als zweyerley Gemeinden begegnen“.
- Es sollen sich nicht mehr als zwei bis vier Haushalte oder höchstens 15 Personen treffen, „damit diese Sache mehr in eine freundschaftlich – als kirchlich – geformte Versammlung gefasst werde“.
- Erlaubt ist neben der Bibel die Lesung „anderer erbaulicher Schriften…, die von der Kirche geprüft und gebilligt sind“, alles verdächtige, zweideutige und sektiererische Schrifttum soll ausgeschlossen sein, ebenso sind „affektuöse, gemeinhin dunkle und unbestimmte Ausdrücke“ zu meiden.
- Es wird verboten, dass jemand „seinen sogenannten inneren Seelenzustand“ in der Versammlung preisgibt. Erlaubt sind persönliche Glaubenszeugnisse „oder sich auch in allerlei Fällen der Fürbitte seiner Mitchristen bei Gott anzubefehlen“.
- „Das Urteilen über Nebenmenschen, besonders über die Obrigkeit und das Predigtamt ist ganz verboten. Für die weltliche Obrigkeit soll man beten, aber so, dass es nicht Stacheln und Vorwürfe, sondern Liebe und Gehorsam beweise.“
Das Generalreskript nahm eine wichtige Weichenstellung in der Württembergischen Kirchengeschichte vor. Bilfinger unterstrich mit dem Gesetz das Vertrauen der Kirche in die geistliche Mündigkeit der sogenannten „Laien“, ermutigte zu Eigenverantwortung im Bereich der religiösen Bildung ebenso wie zum gesellschaftlichen Engagement. Das Gesetz steht damit an der Wiege der Gemeinschafts- und Jugendverbände, sowie der in Württemberg besonders zahlreichen freien Werke und Initiativen, die in der Folge im 19. Jahrhundert ihre segensreiche Wirkung im Bereich der Inneren und Äußeren Mission entfalteten. Auch die sogenannte „Schwabenformel“ unseres Evangelischen Jugendwerks („selbständig im Auftrag der Landeskirche“), die seit 1949 in Kraft ist, geht auf diese kluge Haltung zurück. 1993 – zum 250jährigen Jubiläum des Gesetzes – wurde eine aktualisierte Fassung des Pietistenreskripts in die Ordnung der Landeskirche aufgenommen und im Jahr 2000 um Regelungen zu Gemeinschaftsgemeinden ergänzt.