Am 31. Oktober 2017 steuert das Reformationsjubiläum auf seinen Höhepunkt zu. Die Erwartungen sind groß: Zehn Jahre lang bereiteten wir uns als Evangelische in der sogenannten „Reformationsdekade“ auf den 500. Jahrestag der Reformation in Deutschland vor. Stabstellen wurden eingerichtet, Themen festgelegt, Kampagnen gestartet.
Schon jetzt, vor dem eigentlichen Höhepunkt, fragen manche: Was bleibt von diesem Jubiläum? Dass in Deutschland eine grundlegende Reformation der Kirche stattfinden durfte, ist für mich zunächst ein großartiges Geschenk. Reformationsjubiläum heißt für mich zuerst und vor allem: unglaublich viel Grund zur Dankbarkeit.
1. Danke für Christus und sein Wort!
Die Luther-Bibel prägte seit der Reformation große Teile der evangelischen Kirche. Ich selbst bin mit ihr aufgewachsen. Die Bibelworte, die mich tragen, habe ich in ihrer Übersetzung in- und auswendig gelernt. Aber Luther gab den Gemeinden nicht nur eine hervorragende Bibelübersetzung an die Hand, er prägte mit ihr nicht nur Sprache und Denken eines ganzen Volkes über Generationen hinweg. Er erinnerte seine Kirche vor allem an das einzig tragfähige Fundament des Glaubens: Christus und sein Wort.
Ich habe nicht angefangen, regelmäßig in der Bibel zu lesen, weil ich als Jugendlicher alle biblischen Bücher so spannend fand. Sondern ich lese regelmäßig in der Bibel, weil ich in jenem Sommer vor genau dreißig Jahren ganz direkt angesprochen wurde: Wer ist Jesus für Dich? Welche Bedeutung hat er für Dein Leben? Dürfen seine Worte bestimmen, woran ich mein Herz hänge – und wovor ich mich hüte? Vertraue ich dem, was er über das ewige Leben sagt? Weiß er, wie Gott wirklich ist? Ist er tatsächlich von den Toten auferstanden? Wird er am Ende der Zeit wiederkommen? Wenn ich einmal sterbe – muss ich mich dann vor ihm verantworten? Vergibt er mir, was ich falsch gemacht habe – oder bringt er es sogar wieder in Ordnung? Darauf suchte ich Antworten.
Ich habe es wesentlich der Reformation zu verdanken, dass mein Umfeld von dieser typisch lutherischen Mischung aus Christus- und Schriftfrömmigkeit geprägt war – eine im besten Sinne des Wortes „evangelische“ Kombination. Der Pietismus, in dem ich aufwachsen durfte, predigte keinen Biblizismus, sondern ermutigte in dieser lutherischen Tradition zu einem großen Vertrauen auf Christus und sein Wort. Ein Vertrauen, das die Wundergeschichten und allem voran die Auferstehung Jesu eben nicht für fromme Fabeln hält, sondern Gottes fabelhaften Möglichkeiten mehr zutraut als unser begrenzter Verstand von der Wirklichkeit begreifen kann. Ein Vertrauen in die ganze Heilige Schrift, weil sie vom Anfang bis zum Ende die Sehnsucht Gottes nach den Menschen bezeugt.
Reformation zu feiern heißt für mich an erster Stelle: Ich bin unglaublich dankbar, dass ich selbst auch ein Teil dieser Geschichte sein darf.
2. Danke für eine frische Form von Kirche!
Auch bei uns steht ein Playmobil-Luther im Kinderzimmer – und unser Jüngster fragt mich immer wieder: „Gell, den gab’s auch in echt?“ Ich habe Luther-Socken geschenkt bekommen und Luther-Bonbons – und mich gefreut. Aber Reformationsjubiläum ist mehr als Luther-Kult. Reformation der Kirche heißt: Wiederentdeckung des Evangeliums!
Luther legte den Finger auf den wunden Punkt: Das Evangelium kann innerhalb der Kirche, in jeder Gemeinde aus dem Mittelpunkt geraten. Dann werden Gemeinden, ja ganze Kirchen „exzentrisch“, sie bilden unbiblische Traditionen und Sonderlehren aus, die ihr eine Unwucht verleihen und sie zu kauzigen Sonderlingen im Leib Christi werden lassen – egal, wie viele (Leicht-)Gläubige sich zu ihr zählen. Es läuft nicht mehr rund, sondern Gemeinde eiert herum, wird in mehrfacher Hinsicht faul. Sie ist mehr mit sich selbst und ihrem inneren Gleichgewicht, ihrem Vermögen und ihrem Machterhalt beschäftigt als mit ihrer ursprünglichen Mission, das Evangelium „laufen zu lassen“ – hin zu Menschen, die Christus und sein Wort noch nicht kennen.
Ich bin dankbar für eine Kirche, die weiß, dass sie genau an dieser Stelle, in ihrem innersten Kern schuldig werden kann – auch als Ganzes, nicht nur in Teilen. Luther zeigte, dass selbst Synoden irren können. Ja, wir sind als Gemeinde Jesu das Licht der Welt. Aber eben nur dort und nur dann, wo Christus und sein Wort in uns und durch uns aufscheint.
Ich beobachte dankbar: Wo Reformation geschieht, wo Kirche umkehrt und ihre Mitte neu findet, da verändert sich Gemeinde – hin zur ursprünglichen Frische, hin zur befreienden Wahrheit, voller Sendungsbewusstsein und mit großer Dienstbereitschaft. Gesetzliche Strukturen verwandeln sich in evangeliumsgemäße Räume der Freiheit: Nicht starr und doch geordnet, mit flachen Hierarchien und dennoch klaren Zuständigkeiten. Weg von zentralisierter geistlicher Planwirtschaft hin zu eigenverantwortlichem, mündigem Handeln. Weg von einseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten hin zu genossenschaftlichen Modellen. Weg von der reinen Verwaltung hin zu missionarischen Aufbrüchen.
Es sind nicht die neuen Strukturen an sich, die eine frische Form von Kirche, eine Reformation bewirken. Sondern es ist und bleibt auch 2017 allein Christus und sein Wort, sein Heiliger Geist, der in solchen „evangelischen“ Strukturen zur Sprache kommt, sich Raum schafft und dadurch Menschen verändert – in allen Konfessionen.
Ich bin unglaublich dankbar, wo immer ich Gemeinde in solcher alter, neuer Frische entdecke – denn auch das gibt es „in echt“.
3. Danke für ein unglaubliches Zeugnis!
Schon jetzt werden die Besucherzahlen und die Resonanz dieses Jubiläums auf den Prüfstand gestellt. Kritische Fragen sind berechtigt – gab es doch auch manches „Exzentrische“ in diesem Jubiläum. Und doch möchte ich darüber nicht aus den Blick verlieren, mit wie viel Engagement Tausende von Ehrenamtlichen sich in diesem Jubiläum in den Gemeinden vor Ort dafür eingesetzt haben, dass die Kernthemen der Reformation zur Sprache kamen: Christus allein, die Schrift allein, die Gnade allein, der Glaube allein. Auch als ChristusBewegung haben wir unsere Beiträge zur Reformationsdekade genau darauf konzentriert: Beim Christustag im Stadion, bei den Christustagen auf den Kirchentagen und bei unzähligen Veranstaltungen vor Ort. Ich bin dankbar für alle, die das mit uns in diesen Jahren gefeiert haben.
Blicke ich lediglich in die Kirchenbezirke, in denen ich persönlich mehr unterwegs war, ist es überwältigend, was hier gemeinsam öffentlich bekannt werden konnte, es war vielfach schlicht genial, wie Christus und sein Wort die Feiern prägten. Das war nicht exzentrisch, sondern rund – das lief, das wurde gesehen und gehört.
Dabei weiß ich sehr gut: Gerade für römisch-katholische Geschwister bleibt die Reformation immer auch eine Verlustgeschichte. Die äußere Einheit der Kirche zerbrach dauerhaft. Zum Feiern gibt es aus dieser Perspektive eher wenig. Mit Blick auf die je nach Region bisweilen sehr kleinteilige Vielfalt von Lutheranern, Reformierten, Unierten, Mennoniten, Methodisten, Baptisten, Pietisten, Evangelikalen und Charismatikern aller Prägungen können unsere römischen Geschwister etwas zugespitzt schmunzeln – oder auch seufzen: „Ihr Evangelischen seid keine Konfession – ihr seid Legion!“
Umso dankbarer bin ich für alle Feiern, alle Vorträge, bei denen die berühmten reformatorischen „soli“ nicht solo, sondern gemeinsam gefeiert wurden, wo quer über die Konfessionen und Prägungen hinweg die innere Einheit sichtbar wurde. So wie an jenem für mich unvergesslichen Abend, als Herrenberger Christinnen und Christen aus ganz unterschiedlichen Gemeinden einen Gebetsgottesdienst feierten und sich von der Stiftskirche hinunter bis zum Bahnhof zu einer Lichterkette versammelten – als lebendiges Zeugnis für den, der für Katholische wie Evangelische das wahre Licht der Welt ist.
Ich bin unglaublich dankbar für dieses Zeugnis und für viele 1.000 Impulse und Begegnungen, die von diesem Geist erfüllt waren. Ich bin überzeugt: Ein solches Zeugnis hinterlässt Spuren – weit über das Jubiläum hinaus.
Veröffentlicht in: Lebendige Gemeinde 3/2017