Es gab in der DDR einen Kalauer: „Die Partei will nur unser Bestes. Aber das behalten wir lieber selbst.“ Was ist das Beste für eine Stadt, für einen Staat – und wer setzt es durch? Wer bekommt Spielräume, Finanzen und die Möglichkeit, Ordnungen festzulegen und auch zu kontrollieren – natürlich immer nur mit den besten Absichten? Wer bestimmt, wer dazugehört und wer nicht? Welche Meinung, welche Weltanschauung setzt sich durch – und auf welche Weise?
In Deutschland waren es nicht zuletzt die Erfahrungen mit der Schreckensherrschaft während der Nazi-Diktatur und das Versagen der gesellschaftlichen und demokratischen Kontrollmechanismen in der Weimarer Republik, die zu einer sorgfältigen politischen Architektur der neuen Bundesrepublik geführt haben.
Bewusst wurden im Sinne einer „wehrhaften Demokratie“ verschiedene Kontrollmechanismen beim Streit um die Macht etabliert, um Minderheiten vor Unterdrückung zu schützen und so viele Bürger wie möglich zum gesellschaftspolitischen Engagement zu befähigen und ermutigen: Garantierte Freiheiten und Rechten (wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Religions- und Gewissensfreiheit, Wahlrecht, Zugang zu öffentlichen Ämtern), Gewaltenteilung (Trennung von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung), regelmäßige, freie, geheime Wahlen u.v.a. bilden ein bewährtes und ausbalanciertes System, um Macht auf verschiedene Institutionen zu verteilen und damit auch zu begrenzen.
Machtkonflikte verschärfen sich, wenn der Glaube ins Spiel kommt: Politik kann sich damit begnügen, dem Willen der Wähler zu folgen, der Glaube fragt nach Gottes Willen. Politik sorgt sich um menschliches Wohl, Glaube um das ewige Heil. Zum Streit um Macht tritt der Streit um die Wahrheit hinzu.
Dieser Streit wurde in der christlichen Gemeinde unterschiedlich geführt. Die folgenden Abschnitte erinnern skizzenartig an einige der wichtigsten kirchengeschichtlichen Wegmarken, wo Glaube und Macht, Kirche und Politik sich aufeinander eingelassen haben – manche davon waren Lichtblicke, andere gehören zu den dunkelsten Kapiteln der Kirchengeschichte.
Der Rat des Gamaliel – vom Lebensrecht des Irrtums
Von Anfang an war das Evangelium umstritten. Paulus und Johannes rechtfertigten als Minderheit ihr Verhalten vor dem Hohen Rat mit der Feststellung: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ (Apostelgeschichte 5,29).
Im diesem Streit empfiehlt der Schriftgelehrte Gamaliel ein außergewöhnliches Vorgehen:
„Lasst ab von diesen Menschen und lasst sie gehen! Ist das Vorhaben oder dies Werk von Menschen, so wird es untergehen; ist es aber von Gott, so könnt ihr sie nicht vernichten – damit ihr nicht dasteht als solche, die gegen Gott streiten wollen.“ (Apostelgeschichte 5,38f.)
Wir begegnen hier einem zurückhaltenden Umgang mit Macht: selbstsicher und dadurch auch gelassen im Umgang mit der Wahrheitsfrage, ohne jegliche Angst, zu viele der eigenen Anhänger könnten sich durch die vermeintliche Irrlehre verführen lassen.
Der Rat des Gamaliel beruht auf der geistlichen Überzeugung: Gott ist größer als die eigene Erkenntnis der Wahrheit. Wer meint, der Wahrheit mit Gewalt zur Macht verhelfen zu müssen, unterschätzt die Möglichkeiten des lebendigen Gottes. Kirchenhistoriker bezeichnen diesen bewusst zurückhaltenden Umgang mit der Macht auch als Eintreten für ein Lebensrecht des Irrtums.
Konzilien als Weg zur Klärung von Macht- und Streitfragen
Eine der ersten großen Streitfragen der jungen Gemeinde betraf das Verhältnis zu Nichtjuden. Gehörte zur Nachfolge als Jünger des Juden Jesus auch, sich beschneiden zu lassen und die von Mose überlieferten Gebote zu halten? Das in Apostelgeschichte 15 (und von Paulus in Galater 2) geschilderte, später so genannte „Apostelkonzil“ berichtet von der Versammlung der „Ältesten und Apostel“, in dem um diese Frage gerungen und dann eine Lösung entschieden wurde.
Der Begriff „Konzil“ stammt vom lateinischen concilium (Rat, Zusammenkunft); im griechischsprachigen Teil der Christenheit wurden diese Treffen als „Synoden“ bezeichnet (griech. synodos = Versammlung, Treffen, wörtlich: gemeinsam auf dem Weg sein).
Im weiteren Verlauf der Kirchengeschichte blieben Konzile oder Synoden in der Gesamtkirche das bevorzugte Instrument, um Streitfragen zu klären und sich auf Lehre und Ordnung der Kirche festzulegen – durch öffentliche Debatten und die gemeinsame Arbeit an Texten in Gremien. Theologisch galt dabei, dass grundsätzlich alle Christen über den Heiligen Geist verfügen, der sie dazu befähigt, das Wort Gottes zu verstehen und dem Willen Gottes entsprechend umsetzen. Tragfähige Lösungen versuchten deshalb immer, eine möglichst breite Zustimmung zu erhalten (Prinzip des magnus consensus).
„Cogite intrare“ – vom Zwang zur Wahrheit
Mit dem Wandel zur etablierten Staatsreligion im römischen Reich wandelte sich der Umgang mit Minderheiten und Andersgläubigen. Einen ersten traurigen Höhepunkt stellte das Jahr 411 dar, in der die Staatskirche die Bewegung der sogenannten Donatisten gewaltsam auslöschte und kaiserliche Soldaten sogar die Todesstrafe vollstreckten.
Ursache des Streits war die Frage: Sind Sakramente wie Taufe und Abendmahl gültig, auch wenn sie von Amtsträgern gespendet wurden, die unter dem Druck der früheren Verfolgungen den Glauben verleugnet hatten? Die Bewegung der Donatisten hielt solche Taufen für ungültig und taufte erneut, die Mehrheit der Bischöfe im römischen Reich hielt an der Gültigkeit fest, unabhängig von der „Heiligkeit“ oder den Verfehlungen des jeweiligen Amtsträgers. Besonders in Nordafrika spitzte sich der Konflikt zu.
Zur damaligen Zeit war Augustin (354-430) Bischof im nordafrikanischen Hippo, der sich als einer der herausragendsten Theologen jahrelang in zahllosen Streitschriften und Gesprächen mit Vertretern der Donatisten um eine friedliche und vernünftige Lösung bemüht hatte – erfolglos. Er schreibt:
„Ursprünglich war ich der Meinung, zur Einheit Christi dürfte niemand gezwungen werden. Es schien mir richtig, nur mit dem Wort zu handeln. … Aber diese meine Meinung wurde widerlegt.“ (ep. 93,17). Resigniert stimmt er der Gewaltanwendung zu – mit der Begründung, Christus selbst ermahne im Gleichnis vom Großen Abendmahl dazu, „wir sollten jedermann, den wir erreichen können, zum Eintreten in sein Haus zwingen.“ (ep 93,5).
Das von Augustin nicht häufig, aber doch als erstem in Anlehnung an Lukas 14,23 verwendete Motto cogite intrare („nötigt sie, einzutreten“) entfaltete später eine verheerende Wirkung bei der Ketzerbekämpfung in Mittalter und Neuzeit und wurde als theologische Rechtfertigung für Zwangstaufen missbraucht.
Vermischung von staatlicher und religiöser Macht im Mittelalter
Unter Otto I. (912-973) erhielten Bischöfe und Äbte weitere Rechte, die sie den weltlichen Grafen und Fürsten allmählich gleichstellten. Dies mündete im System der geistlichen Kurfürstentümer. Sieben Kurfürsten wählten den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation; vier weltlichen Kurfürsten standen drei geistliche Kurfürsten (Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier) zur Seite.
Die Freiheit des Gewissens als innere Grenze religiöser und staatlicher Macht
Albrecht von Brandenburg (1490-1545) trieb zur Zeit Martin Luthers die Anhäufung von religiöser und weltlicher Macht auf die Spitze. Dass er seinen Machthunger mit Hilfe der Ablasspraxis finanzierte, stellte einen der wesentlichen Missbräuche dar, die Martin Luther zu seinen 95 Thesen veranlassten. Luthers Verteidigungsrede am 18. April 1521 auf dem Reichstag in Worms gilt zu Recht als eine der Geburtsstunden des Protestantismus. Der später als „Ich stehe hier – ich kann nicht anders“ zusammengefasste Ausspruch lautete nach den Protokollen des Konzils wörtlich:
„Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder einen klaren Grund widerlegt werde – denn allein dem Papst oder den Konzilien glaube ich nicht; es steht fest, dass sie häufig geirrt und sich auch selbst widersprochen haben –, so bin ich durch die von mir angeführten Schriftworte überwunden. Und da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.“ (Martin Luther, Ausgewählte Schriften, Frankfurt am Main/Leipzig 1995, S. 269.)
Wahrheit benötigt Freiheit und Verantwortung
Martin Luther stellt eine wesentliche Frage: „Wem glaube ich – und warum?“ Glauben definiert Luther dabei nicht als ein bloßes Für-Wahr-Halten einer Meinung, sondern von der Bibel her als unbedingtes Vertrauen. Und nur aus solchem erwächst echter Gehorsam. Bei seinem Bibelstudium als Wittenberger Theologieprofessor lernt und lehrt er: Wahrer Glaube, wahres Vertrauen und wahrer Gehorsam lassen sich nicht befehlen, weder durch den Papst noch durch Konzilien – noch durch den Kaiser.
Luther war überzeugt: Glaube kann nur als Geschenk erlebt werden. Dass ein Mensch zum Glauben – und damit aus geistlicher Sicht zur Wahrheit und zum ewigen Leben – kommt, ist letztlich unverfügbar wie eine gute Ernte. Wie bei der Ernte gibt es allenfalls hilfreiche Rahmenbedingungen, die der Mensch fördern kann. Zwang und Gewalt ersticken die Frucht des Glaubens im Keim, geschenkte Freiheit und zugestandene Verantwortung dagegen sind der Nährboden, auf dem wahrer Glaube und mit ihm liebevolles Vertrauen und verantwortungsvoller Gehorsam in Wahrheit wachsen können – wo und wann es Gott gefällt.
Das Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit von Kirchenleitung: sine vi, sed verbo
Die Reformation wollte viele schlechte Entwicklungen rückgängig machen und zu den ursprünglichen Wurzeln des Glaubens zurückkehren. Dazu gehörte auch die Trennung von staatlicher und religiöser Macht sowie die Ablehnung religiöser Gewalt. Im Augsburger Bekenntnis bekennen sich die Protestanten um Martin Luther und Philipp Melanchthon zum Grundsatz, dass Kirchenleitung grundsätzlich ohne Gewalt und nur mit menschlichen Worten ausgeübt werden soll (sine vi humana, sed verbo, CA 28).
Landesherrliches Kirchenregiment als Widerspruch zum reformatorischen Ideal
Selbstkritisch muss man jedoch gerade angesichts des nahenden Reformationsjubiläums festhalten: Hier sind die protestantischen Leiter hinter ihren eigenen Idealen weit zurückgeblieben. Das System des landesherrlichen Kirchenregiments machte in den Gebieten, die sich der Reformation anschlossen, den Landesfürsten in Personalunion zum Landesbischof. Es galt der Grundsatz: wessen Land, dessen Konfession (eius regio cuius religio). Die Vermischung von weltlicher und religiöser Macht wurde damit auf Jahrhunderte hinweg in den deutschen evangelischen Staatskirchen fortgeschrieben.
Auch die für sich selbst in Anspruch genommene Gewissensfreiheit hat Luther später seinen religiösen und politischen Gegnern nicht konsequent zugestanden. Seine Schriften gegen die Bauernaufstände und nicht zuletzt die Haß- und Hetzschriften gegen Wiedertäufer und Juden sind von einem anderen Geist geprägt als der Rat des Gamaliel.
Der russische Historiker Wladimir Solowjow bemerkt dazu:
„Juden haben uns Christen jüdisch behandelt. Wir Christen dagegen haben bis jetzt nicht gelernt, Juden christlich zu behandeln. Sie haben in Bezug auf Christen nie das jüdische Gesetz gebrochen. Wir haben das ständig getan. Wir haben die christliche Moral in Bezug auf Juden immer wieder gebrochen.“ (zitiert nach Anatoli Uschomirksi, Hilfe ich bin Jude, SCM Hänssler, Holzgerlingen 2016, S. 158).
Entflechtungen im 19. und 20. Jahrhundert – Kulturkampf und Emanzipation
Im Kontext der Napoleonischen Kriege erfolgte im Anschluss an den Reichsdeputationshauptschluss 1803 die Enteignung besonders der bis dahin römisch-katholischen Flächenbesitztümer von Bistümern, Klöstern und Abteien. Auch das Königreich Württemberg bereicherte sich an der Säkularisation; der ehemals evangelische Staat wurde gemischt-konfessionell und verdoppelte seine Fläche. Der württembergische König blieb weiterhin Landesbischof. Dies änderte sich erst nach dem Ende des 1. Weltkriegs mit dem Beginn der Weimarer Republik.
Die ungute Verflechtung von staatlichen Interessen und Religionspolitik führte in der Zwischenzeit immer wieder zu sozialen Konflikten. Das Ringen um Macht und Einfluss besonders im Schulwesen zwischen Bismarck und Vertretern der römisch-katholischen Kirche fand unter dem Stichwort „Kulturkampf“ Eingang in die Geschichtsbücher.
Auf evangelischer Seite formierten sich – in unterschiedlicher Opposition zum Staat und zur Staatskirche – pietistische Gemeinschaftsverbände, Missionswerke, sozialdiakonische Initiativen (damals unter dem Stichwort „Innere Mission“) und freie Organisationen wie die Evangelischen Lehrer- und Erziehergemeinschaft in Württemberg (gegründet 1865). Sie bilden den Hintergrund der späteren Ludwig-Hofacker-Vereinigung und der heutigen ChristusBewegung Lebendige Gemeinde. Auch die Entstehung von Freikirchen kann bis zu einem gewissen Grad als Ausdruck jener gesellschaftlichen Emanzipations- und Freiheitsbewegungen verstanden werden, die sich damals gegenüber den meist absolutistischen Regierungen und den meist nicht weniger absolutistisch geführten Staatskirchen positionierten und ihre Rechte einforderten.
Widerstand und Ergebung – für die kommende Generation
Die demokratische Abschaffung der Demokratie in der Weimarer Republik gehört zu den bittersten politischen Erfahrungen in Deutschland. Die Kirchen hatten der anschließenden Gleichschaltung aller kirchlicher Strukturen wenig entgegenzusetzen. Etliche Theologen, auch lutherischer und pietistischer Prägung, erlagen der nationalsozialistischen Verführung.
Dietrich Bonhoeffer gehörte zu den wenigen, die das System frühzeitig durchschauten. Was sich selbst als „national-sozial“ bezeichnete, entlarvten Bonhoeffer und andere als zutiefst a-soziale und menschenverachtende Ideologie.
Die Aktivitäten der Bekennenden Kirche und von Kirchenleitern wie Landesbischof Wurm konzentrierten sich nach heutigem Kenntnisstand vor allem darauf, die Freiräume für Geistliche und Gemeinden zu erhalten. Auch gegen die Selektion und Tötung sogenannten „lebensunwerten“ Lebens durch die Nazis erhoben evangelische und römisch-katholische Kirchenleitungen die Stimme. Deutlich zurückhaltender waren dieselben Stimmen, wenn es um die systematische Verhaftung und Ermordung der Juden sowie der politischen Gegner und gesellschaftlichen Minderheiten (darunter Zeugen Jehovas, Homosexuelle, Sinti und Roma) durch die Nazis ging. Das war Bonhoeffer nicht konsequent genug – er selbst skizzierte durchaus radikal und mit weitgehenden Konsequenzen das Programm einer helfenden und dienenden „Kirche für andere“ (DBW 8, S. 560f.). Dem Streben nach persönlichem Heil stellt Bonhoeffer den Einsatz für das konkrete Wohl einer kommenden Generation korrigierend und ergänzend an die Seite:
„Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll.“ (Dietrich Bonhoeffer, DBW 8, S. 25).
Die Grundspannung, in der sein theologisches wie politisches Handeln steht, lässt sich mit dem Begriffspaar „Widerstand und Ergebung“ treffend zusammenfassen: Politischer Widerstand – nicht zum Machterhalt der Kirche, sondern wo anderen das Recht auf Leben und Zukunft abgesprochen wird. Ergebung – in die Tatsache, dass der Mensch im Widerstand gegen Ungerechtigkeit nicht unschuldig bleiben kann und er immer auf Versöhnung und Erlösung durch Jesus Christus angewiesen bleibt.
Veröffentlicht in: Lebendige Gemeinde 3-2016